Der erste Brief unseres Lese-Abeneuers wird von Hajo am 9. Juni 1942 an seine „Nenntante“ Marie aus Breslau geschrieben.
Ihn treibt die Sorge um seine Mutter Elsa und seine Schwester Gisela um, die in Köln wohnen. Sie sind nicht zu erreichen, er hat bereits längere Zeit nichts mehr von ihnen gehört. Sehr wohl gehört hat er aber von den Luftangriffen auf deutsche Städte, obwohl Breslau davon aufgrund seiner Lage nicht betroffen ist.
Das Leben der deutschen Bevölkerung hat sich seit Beginn des Zweiten Weltkriegs grundlegend geändert. Im Jahr 1942 sind Ehemänner, Söhne, Brüder, Verlobte und Väter aus fast jeder Familie an der Front. Die Sorge um sie ist in der Gesellschaft deutlich spürbar, dazu kommen die ersten Einschränkungen im Alltag.
Leid und Tod spielen sich zunächst noch außerhalb des täglichen Lebens ab. Ab 1942 dehnen allerdings die Alliierten ihre Luftangriffe über militärisch strategische Ziele hinaus auch auf deutsche Großstädte aus.
Die britische Flächenangriffs-Strategie
Am 14. Februar 1942 erlässt das britische Luftfahrtministerium die „Area Bombing Directive“und erteilt damit den Befehl zum Flächenbombardement deutscher Städte. Eine Woche später wird der prominenteste Befürworter dieser Strategie, Sir Arthur Harris (1892- 1984), zum Befehlshaber des britischen Bomber Command ernannt. Das britische Kriegskabinett beschliesst am 14. März 1942, den Bombenkrieg gegen Deutschland zu intensivieren, um die Bevölkerung zu demoralisieren und ihren Verteidigungswillen zu brechen.
Lübeck und Rostock
Lübeck wird am 29. März als erste Stadt von einem massiven Flächenbombardement getroffen. Dieser Tag ist der Palmsonntag vor Ostern. Fortan wird der Bombardierung in der Lübecker Geschichte unter der Bezeichnung „Palmarum“ gedacht. Das Gedenken findet daher nicht am jeweiligen 29. März eines Jahres statt, sondern bleibt mit dem Palmsonntag verbunden.
Vom 24. bis zum 27. April 1942 trifft es dann Rostock. Die Stadt wird bis Kriegsende noch 21 weitere Bombenangriffe erleben müssen.
Weiterführende Informationen u.a.: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/alltagsleben.html
9. Juni 1942 – Staatsakt für Heydrich
Reinhard Heydrich (1904-1942) ist als SS-Obergruppenführer und General der Polizei, Leiter des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) sowie als „Stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren“ für zahlreiche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich. Im Jahr 1941 beauftragt ihn Hermann Göring mit der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“. Er wird zum Hauptorganisator des Holocaust.
Bei einem Attentat am 27. Mai 1942 wird er schwer verletzt und erliegt seinen Verletzungen am 4. Juni. Er wird zunächst zwei Tage im Prager Königspalast „Hradschin“ aufgebahrt, bevor er nach Berlin überführt wird.
Während dort in der „Neuen Reichskanzlei“ am 9. Juni eine der größten Totenfeiern des Dritten Reiches stattfindet, werden zeitgleich am 9. und 10. Juni 1942 „zur Vergeltung“ die Dörfer Lidice und Ležáky dem Erdboden gleichgemacht, die Bewohner erschossen oder in Konzentrationslager depotiert. In Folge des Attentats werden mehr als 3000 Menschen verhaftet und mehr als 1300 Menschen hingerichtet. Der Anschein von Rechtmässigkeit soll durch die Einführung des sogenannten Standrechts zur Unterdrückung von Aufständen bemäntelt werden. Die Folge ist, dass örtliche Befehlshaber selbst Urteile fällen und sofort vollstrecken lassen können. Dieses Standrecht wird in der Tschechoslowakei auch heute noch als Heydrichiade (heydrichiáda ) bezeichnet.
Weiterführende Informationen u.a.:
https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Anthropoid
https://de.wikipedia.org/wiki/Reinhard_Heydrich
Breslau
Das heutige Wroclaw ist Hauptstadt der polnischen Woiwodschaft Niederschlesien und mit 641.607 Einwohnern die viertgrößte Stadt Polens.
Vom 13. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Stadt mehrheitlich deutsch geprägt.
Durch den Ausbau der chemischen und metallverarbeitenden Industrie, der Ölmühlen sowie der Papier- und Bekleidungsfabriken zieht Breslau seit 1849 immer mehr Menschen an. 1875 ist Breslau die drittgrößte Stadt des Deutschen Kaiserreichs und wird nur durch Berlin und Hamburg in der Größe übertroffen.
Damals wie heute ist die Stadt das wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Zentrum Niederschlesiens. Das reichhaltige Theater- und Musikangebot und die Bildenden Künste machen aus Breslau vor dem Zweiten Weltkrieg eines der wichtigsten kulturellen Zentren des damaligen Deutschlands.
Neben vielen Parks und Grünanlagen, einem Zoologische Garten und einem Japanischen Garten als Teil der Jahrhundertausstellung 1913, entstehen bedeutende öffentliche Bauwerke, innovative Architekturprojekte und Industriebauten. Zu ihnen zählen die Kaiserbrücke (1910), die Jahrhunderthallte (Architekt Max Berg, 1913, UNESCO Weltkulturerbe seit 2006), sowie Banken, Kaufhäuser und Wohnungsbauten für den Bedarf der stark wachsenden Bevölkerung. Bedeutende Architekten der Moderne wie Ernst May, Erich Mendelsohn, Adolf Rading oder Hans Scharoun wirken in Breslau und unterrichten teilweise auch an der Staatlichen Akademie für Kunst und Kunstgewerbe.
Da Breslau bis zum Oktober 1944 von Luftangriffen verschont bleibt und keine im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten vergleichbare Zerstörung erfährt, wird es in der damaligen Zeit ironisch auch als „Reichsluftschutzkeller“ bezeichnet.
Weiterführende Informationen u.a.: https://visitwroclaw.eu/de/geschichte-der-stadt-wroclaw
Deportation der Breslauer Juden
Im Jahr 1890 leben in Breslau 17.750 Personen jüdischen Glaubens. Die jüdische Gemeinde ist damit zahlenmäßig nach Berlin die zweitstärkste im deutschen Kaiserreich. Aber bereits 1938 wird die Neue Synagoge von 1872 – eine der imposantesten Synagogen Deutschlands – während der Novemberprogrome zerstört. Im November 1941 beginnt die Deportation.
Am 21. November werden 1.005 Frauen, Männer und Kinder ins litauische Kaunas verbracht und ermordet. Die verbliebenen Juden werden ab dem Frühjahr 1942 in 15 Transporten aus der gesamten schlesischen Provinz direkt nach Sobibor, Auschwitz, Riga oder Theresienstadt deportiert.
Weiterführende Informationen u.a.: https://www.xn--jdische-gemeinden-22b.de/index.php/gemeinden/a-b/471-breslau-schlesien

Hochschulen und Bildung in Breslau
Hajo hat es nach Breslau verschlagen, weil er seinem Professor, bei dem er zuvor in Hannover Chemie studiert hatte, an die TH folgt.
Sie war 1910 als letzte Technische Hochschule des Kaiserreiches neu gegründet worden, den Anfang hatte die TH Aachen im Jahre 1870 gemacht. Die Gründungen orientierten sich dabei vornehmlich am wirtschaftlichen Ausbildungsbedarf. Sie entstanden dort, wo entsprechende industrielle Infrastruktur existierte und der Bedarf nach gut ausgebildeten Spezialisten bestand. (Vgl. Kranich, K.: Die Entwicklung der Technischen Hochschule Breslau bis 1930“, In: Die Bollwerk-Ingenieure. Technikwissenschaft in Breslau 1900- 1945: 63-93).
Die Universität Breslau ist wesentlich älter, sie existiert bereits seit 1701 und wird 1811 im Zuge der Preußischen Reformen mit der Universität Frankfurt/Oder zur „Königlichen Universität Breslau“ zusammengelegt. Damals besitzt sie fünf Fakultäten und ist die erste deutsche Universität mit einer katholischen und einer protestantischen Fakultät. Zu ihrem 100. Jubiläum erhält sie 1911 den Namen „Schlesische Friedrich-Wilhelms Universität“. Sie bringt Nobelpreisträger wie Paul Ehrlich (Medizin, 1908), Fritz Haber und Friedrich Bergius (Chemie, 1918 bzw. 1931) hervor.
Seit 1791 gibt es auch die Königliche Kunst- und Gewerbeschule, aus der 1911 die Staatliche Akademie für Kunst und Kunstgewerbe hervorgeht.
Das Jüdisch-Theologische Seminar Fraenckel’scher Stiftung, das erste deutsche Rabbiner-Seminar, wird 1854 gegründetund besteht bis 1938.
Bereits im August 1945 werden die Universität sowie die Technische Hochschule in Hochschulen des polnischen Staates umgewandelt und nehmen schon im November 1945 mit ersten Vorlesungen ihren Lehrbetrieb wieder auf. Heute gilt die TU in Breslau mit über 4.200 Beschäftigten als größter Arbeitgeber der Stadt.
Weiterführende Informationen u.a.:
Herr über Gesetz und Gericht
Bereits mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 gibt das „Ermächtigungsgesetz“ der NS-Reichsregierung die Vollmacht, Gesetze zu erlassen, die auch ohne Zustimmung des Reichtstags gültig werden. Im Jahr 1934 erhält Hitler nach dem Tod von Reichspräsident Hindenburgs auch das Recht, sogenannte Notverordnungen zu erlassen.
Der Reichstagsbeschluss vom 26. April 1942 erklärt Hitler dann zum obersten Gerichtsherrn Alle seine direkten Anordnungen und Befehle („Führererlass“ bzw. „Führerbefehl“) sind damit für alle Behörden und alle deutschen Staatsangehörigen im Herrschaftsbereich des NS-Regimes geltendes Gesetz. Hitler ist damit „Herr über Gesetz und Gericht“.
Weiterführende Informationen u.a.:
Luftwaffenhelfer
Bereits 1942 zeigen die starken Luftangriffe der Engländer Wirkung. Die Luftabwehr wird mit allen Mitteln verstärkt, weil die fliegenden Verbände der deutschen Luftwaffe an die Ostfronten verlegt werden müssen.
Die sogenannten „Heimatflakbatterien“ werden daher zunächst in der Nähe von Industriebetrieben durch den Kriegshilfseinsatz von Jugendlichen verstärkt.
Am 5. Februar 1942 fordert „Reichsjugendführer“ Axel Axmann den Kriegseinsatz der Hitler-Jugend (HJ). Bereits am 11. Februar werden die ersten Schüler der höheren Schulen als Luftwaffenhelfer rekrutiert.
Im November 1942 erlässt der „Reichsluftfahrtminister“ Hermann Göring dann eine Verordnung, nach der alle Schüler der Mittleren und Höheren Schulen, die das 15. Lebensjahr vollendet haben, bis zu ihrer Einberufung der Luftwaffe zwangsverpflichtet werden.
Das betrifft auch Schülerinnen der Mittleren und Höheren Schulen ab dem 17. Lebensjahr sowie Frauen, die keinen eigenen Familienhaushalt führten und/oder nicht im öffentlichen Dienst stehen.
Weiterführende Informationen u.a.
HWA
Das Heereswaffenamt ist im zweiten Weltkrieg die zentrale Stelle der Rüstungsforschung des deutschen Heeres und damit für die Entwicklung und Fertigung von Waffen, Munition und Gerät verantowrtlich. Es beschäftigt ca. 5000 Beamte und Offiziere.
Zum HWA gehörten verschiedene Heeresversuchsanstalten wie z.B. die Versuchsanstalt Peenemünde unter Werner von Braun, die Waffen wie die Rakete V2 und andere Geräte erprobten.
Sternstunden der Menschheit
Die Anspielung Hajos bezieht sich auf die gleichnamige Sammlung von zunächst fünf (1927), später vierzehn historischen Erzählungen, die Stefan Zweig verfasst hatte. Sie handeln von historischen Begebenheiten, die die Geschichte der Menschheit verändert haben.
Hajo besaß sowohl die Erstausgabe von 1927 wie weitere der folgenden Ausgaben und schätzte Stefan Zweig als Autor sehr. Im Jahr 1942, genauer am 23. Februar, nimmt sich Stefan Zweig gemeinsam mit seiner Frau Lotte in Brasilien durch eine Überdosis Veronal das Leben. Der Ort Petropolis in der Nähe von Rio de Janeiro, in dem das geschieht, soll später auch in Hajos Leben eine Rolle spielen.
Weiterführende Informationen u.a.:
https://de.wikipedia.org/wiki/Sternstunden_der_Menschheithttps://de.wikipedia.org/wiki/Stefan_Zweig
Frauen in der Rüstung
Da mit zunehmenden Problemen an den Fronten immer mehr arbeitsfähige Männer zum Militärdienst eingezogen werden, sind Arbeitskräfte für die gigantischen wirtschaftlichen und militärischen Rüstungsprogramme Mangelware.
Das NS-Regime versucht zunächst, den Bedarf durch den Einsatz von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen zu decken. Dies gelingt aber nur teilweise. Daher werden am 20. April 1942 auch die Frauen in Deutschland zur Arbeit in Rüstungsbetrieben verpflichtet.
Dies steht allerdings im Widerspruch zur Propaganda der NSDAP und ihrer Überbetonung von Mutterschaft und Hausfrauenarbeit. Viele Frauen widersetzen sich der Zwangsverpflichtung, die schlechten Arbeitsbedingungen und die geringe Entlohnung liefern keinen Anreiz. Darüber stellt die Versorgung der Kinder und der Familie die Frauen im weiteren Kriegsverlauf vor so hohe Anforderungen, dass sie einer zusätzlichen Erwerbstätigkeit nicht gewachsen sind. Deshalb werden besonders gerne unverheiratete junge Frauen ohne eigene Familie rekrutiert und in allen Bereichen der Wirtschaft eingesetzt, sei es als Kraftfahrerinnen, in der Metall- und Waffenproduktion oder im militärischen Bereich, z.B. als sogenannte Luftwaffenhelferinnen, im Volksmund „Blitzmädels“ genannt.
Weiterführende Informationen u.a.:
Ich habe meinen ersten Brief samt 2 Postkarten erhalten, alles sehr schön gestaltet. Ganz toll finde ich die Idee mit den farbig markierten Worten, zu denen es hier ausführliche Hintergrundinformationen mit weiteren links gibt.
Ich bin ganz begeistert von diesem Konzept und freue mich schon auf den nächsten Brief.
Den Brief habe ich nun auch erhalten. Ich verstehe ein Zusammenhang nicht : An der Technische Hochschule geht es uns ja Gold.
Gibt es da weiterführende links?
Google schick mich zu Büchern, ich den Kontext nicht ganz verstehe
Die farblich unterstrichenen Worte sind als Farben blinder schwer zu erkennen. Ich jedoch durch die Erklärung weiterführende im Bilde bin.
Wenn Hajo schreibt, dass es ihm an der Technischen Hochschule ja „Gold“ geht, meint er damit, dass die Technische Hochschule finanziell sehr gut ausgestattet war und über alle Möglichkeiten zur Forschung verfügte. Da es zu dieser Zeit einen großen Bedarf an technischen Spezialisten gab und die Ausbildung für diese Studenten von Seiten des Staates hohe Priorität hatte, waren die Technischen Hochschulen häufig besser ausgestattet als die Universitäten.
Ihre Anmerkung wegen der farblich unterstrichenen Wörter nehmen wir auf und werden intern besprechen, ob wir die Worte vielleicht zusätzlich unterstreichen, damit sie leichter zu identifizieren sind. Ich hoffe, das hilft ein wenig weiter. Viele Grüße von den Geschichtenrettern
Besten dank für die weiterführende Antwort.
Jetzt ist es mir klarer geworden. Die weiterführenden Links finde ich sehr nütlich um doch besser in die geschichte einzutauchen.
Wäre es vieleicht möglich das auf der Abo Blog, der 1 Brief zu oberst gelistet ist, so das man nach den Briefen von Tief nach Hoch scrollen kann, der letzte Brief zuoberst, verdierbt ja schon einwenig die Freude
Vielen Dank für die Anregung. Das haben wir direkt umgesetzt und jetzt sollte es so sein, dass der 1. Brief oben steht. Weiter viel Freude mit unserer Geschichte und viele Grüße.